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 Prolog
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MEER1

Leseprobe: Gegen die Gezeiten ´(Alle Rechte: Mia Salberg/Ueberreuter)

Kapitel 1

Die Ostküste von Schottland im Herbst, das hieß grauer Himmel über grauem Meer, gesprenkelt mit einigen grauweißen Möwen. Der Wind blies Ella ihre kastanienbraunen Ponysträhnen in die Augen und bauschte die rehfarbene Jacke. Ein paar Regentropfen pladderten nieder. Gereizt zerrte Ella die Webpelzkapuze über den Kopf.
Sie schaute auf die Uhr. Nun wartete sie schon eine geschlagene halbe Stunde im rauen Wetter an der Mole von Seaguard auf die Fähre. Sie hustete. Ihre Bronchien krampften sich zusammen, und sie konnte nicht atmen. Sie geriet in Panik und tastete nach dem Inhalator. Das Blut rauschte in ihren Ohren, aber dann verschwand die Anspannung in ihrer Kehle ohne Hilfe des Sprays.
Gierig sog Ella den Atem durch die Nase ein, um die Luft zu erwärmen. Sonst drohte gleich der nächste Krampf. Kälte löste manchmal einen Anfall aus. Ärger auch. Von beidem hatte sie im Moment mehr als genug.
Wie war ihr Vater nur auf die Wahnsinnsidee verfallen, das Reizklima an der schottischen Küste würde ihr guttun? Bestimmt war eine Erkältung im Anmarsch! Anders als Peppa mit ihrem flauschigen Welpenfell fror Ella in der scharfen Brise.
Das schwarz-weiße Fellknäuel zu Ellas Füßen amüsierte sich prächtig. Peppa hielt die Hundenase in den Wind, wieselte zwischen Ellas Beinen hindurch und beschnüffelte ausgiebig jeden Stein, jedes Holzteil und jeden Teerklumpen am Anleger. Sie zog unaufhörlich Richtung Wasser und bellte ein, zwei Mal drängelnd. Aus dem kleinen Maul klang es eher wie ein Niesen.
»Nein, Peppa, aus!« Ella befreite ihre Gliedmaßen aus der verknoteten Leine. »Wir warten hier. Unser Schiff müsste bald da sein.« Hoffentlich! Sie kramte in der Jackentasche nach dem Handy, um ihre Freundin Nadira anzurufen, die in London zurückgeblieben war.
Peppa spürte Ellas weggleitende Aufmerksamkeit und winselte leise. Ihre Pfoten tappten überkreuz auf den Holzbohlen. Der Zwergpudel musste mal. Der Platz war dafür denkbar ungünstig, und Ella wollte keinen Ärger riskieren. »Nein, Peppa, nicht!«
Ihr Blick wanderte über den Hafen und die geschlossene Fish-&-Chips-Bude, an der das Taxi sie abgesetzt hatte. Lediglich drei Boote schaukelten auf dem Wasser und nickten ihr zu. Die kleine Yacht, das schäbige Motorboot und die abgedeckte Segeljolle lagen verlassen da. Es sah nicht so aus, als würde hier jemand unbemerkt das Gepäck klauen.
»Wir gehen ja, Peppa.« Ein paar Schritte neben der Mole verlief ein schmaler Sandstreifen. Unaufhörlich leckten die Wellen daran, und ein Bächlein mehr fiel kaum auf.
Ella ließ den Hund von der Leine, und einige Meter weiter hockte Peppa sich kurz hin. Das war es auch schon. Plötzlich gab es für Peppa nichts Dringenderes zu tun, als Muscheln auszugraben und übermütig nach dem zurückweichenden Wasser zu schnappen. Der Hund war noch nie am Meer gewesen, genau wie Ella. Für einen gemeinsamen Badeurlaub hatte die Familie Tellington nie Zeit gefunden.
Ella verschränkte fröstelnd die Arme vor der Brust. Autolärm trieb herüber, doch das Meeresrauschen schluckte die meisten Geräusche wie ein hungriges Ungeheuer. Fasziniert betrachtete Ella das Auf und Ab der See – wie ein stetig dahinfließender Atem. Beige Wellenkämme schäumten wie feine Spitze. Ella hatte ein paar Stulpen in diesem Farbton eingepackt, um die Wollpullover aufzumöbeln, die sie in der tristen Jahreszeit brauchte.
»Oh!« Eine besonders kräftige Welle erwischte ihre Turnschuhkappe. Sie sprang zurück. Erst beim zweiten Hingucken sah sie das Geschenk, das die See ihr dagelassen hatte. Aus dem feuchten Sand blitzte ein vorwitziges blaues Auge. Ella beugte sich hinab und befreite das kleine Glasstück aus dem Boden. Es war saphirfarben und glatt geschliffen wie ein Edelstein. Ella rieb den Fund am Ärmel trocken, doch das bewirkte nur, dass sie statt des Saphirs bald nur noch eine abgesprungene, matte Scherbe in der Hand hielt. Der Zauber verblasste mit dem Glanz, den das Wasser dem satinierten Glas verliehen hatte.
Genau wie mein Leben, dachte Ella und steckte den Handschmeichler in die Jeanstasche.
Ellas Vater verdiente als Anwalt für internationales Recht in London eine Menge Geld. Ihre Mutter Margaret war eine gefeierte Folksängerin gewesen. Ella war wohlhabend und relativ sorglos aufgewachsen. Aber wenn man unter die Oberfläche ihres Daseins sah, verlor sich der Glamour. Ihr Vater hatte kaum Zeit für sie. Und die Mutter ... Ella schluckte die Tränen hinunter und berührte liebevoll die Stelle, wo direkt auf der Haut ihr schönstes Schmuckstück hing, Mums letztes Geschenk.
»Sind das deine Koffer, oder ist der Zwergdalmatiner mit Gepäck angereist?«
Ella fuhr herum. Auf der Mole stand ein junger Mann mit einem Mopp dunkler Haare auf dem Kopf. Er war vielleicht zwei, drei Jahre älter als sie selbst, also ungefähr 17. Unter dem linken Arm trug er lässig einen riesigen eingewickelten Karton.
Was wollte denn der? Ella ging ein paar Schritte auf ihn zu. »Das sind meine Sachen. Ich warte auf die Fähre nach Burron.«
»Ach, die Fähre«, sagte er spöttisch. »Es gibt nur das Postschiff, und das hast du um zwei Tage verpasst. Das steuert die Insel bloß einmal die Woche an.«
Das darf doch nicht wahr sein, dachte Ella und merkte, wie aufgeregt sie wurde. Oft verhaspelten sich dann ihre Worte wie gekochte Spaghetti, anstatt schön gerade im Bündel herauszukommen.
»Und wie ... komm ich da jetzt hin?«, fragte sie. Der Ärger half ihr, sich zu konzentrieren.
»Du kannst mit mir fahren. Ich nehme an, du bist Ella Tellington?«
»Ja.« Sie legte den Kopf schräg. »Ich warte hier seit einer halben Stunde.«
»Ich bin Luke«, erwiderte der Junge. »Keine Angst, ich soll dich abholen. Tut mir leid, dass es länger gedauert hat. Ich musste noch Besorgungen machen und Pakete einsammeln.«
Von wegen Angst, dachte Ella eingeschnappt und vergaß ihre sonstige Schüchternheit vollkommen. »Und jetzt schipperst du mich mit dem Rest der Päckchen auf die Gefängnisinsel?«
Luke hob für den Bruchteil einer Sekunde die Lider. Seine hellgrauen Augen schienen in einem silbrigen Feuer zu erglühen. Dann lachte er merkwürdig ernst. »Deiner Mutter hat es auf Burron auch nicht gefallen.«
Ella schnappte nach Luft. Luke konnte ihre Mum unmöglich gekannt haben!
Er hüstelte verlegen, als sei ihm gerade erst eingefallen, mit wem er da sprach. »Mein Beileid übrigens. Ich hab gehört, was ...« Er brach ab.
Margaret Tellington war vergangenes Jahr bei einem Brand gestorben. Das war auf ihrer Tournee passiert. Ella hatte sich nicht einmal richtig von ihr verabschieden können, der Sarg blieb bei der Trauerfeier geschlossen. Seitdem litt sie unter Asthma, als hätte sie all den Rauch eingeatmet, in dem ihre Mutter erstickt war.
»Das ist bestimmt nicht einfach«, fuhr Luke fort. »Bitte, gib der Insel eine Chance, ja? Die Seeluft wird dir guttun.« Er sah Ella eindringlich an.
»Das hoffe ich«, antwortete sie und stöhnte innerlich. Luke klang wie ihr Dad. Er hatte Ella die Kur auf der Heimatinsel ihrer Mutter aufgenötigt, weil ihre Lungenwerte nach drei Erkältungen in Folge dramatisch schlechter geworden waren.
Auf Burron lag wirklich der Hund begraben. Im Internet gab es nicht einmal richtige Informationen über dieses Kaff, nur eine Erwähnung als Ausflugsziel. Aber sie würde nicht nur einen Ausflug auf die Insel machen, geschweige denn Urlaub, sondern eine Kur. Sie sollte bei den Goodmans wohnen, ihrer Tante Sarah und deren Mann George. Ella kannte Tante Sarah nur von den vorherigen Telefonaten, bei denen sie einen echt sauertöpfischen Eindruck gemacht hatte.
»Wird schon nicht so schlimm werden«, meinte Luke. »Wir haben eine Strandpromenade für die Gäste, und nach stürmischen Nächten kann man manchmal sogar Bernstein oder solche Dinge finden, die ...« Luke verstummte.
»Ich finde das eben alles nicht besonders aufregend.« Ella zuckte die Achseln und dachte an die enttäuschende Glasscherbe. Wenn sie jetzt bloß schnell gesund wurde und wieder heimdurfte.
Nun zwinkerte Luke, als hätte er den letzten Gedanken gehört. »Wie lange musst du denn absitzen?«
»Ich bleibe wohl bis kurz vor Weihnachten. Danach fliegen mein Vater und ich zum Skilaufen in die Schweiz.«
»Na, die paar Wochen wirst du schon überstehen.«
Luke lud nacheinander Paket und Koffer in den kleinen Kutter mit Namen Ginster, der den zweiten Liegeplatz am Pier belegte. Ella war enttäuscht. Insgeheim hatte sie sich etwas Aufregenderes erhofft: eine schnittige Yacht namens Mermaid oder Azur. Doch Ginster, das krautige Gewächs, das in der Heide wuchs, passte eigentlich auch besser zu einer öden Insel.
Luke hüstelte. »Die Fähre nach Burron legt gleich ab. Wenn die Gräfin von Monte Christo und ihr 102. Dalmatiner belieben, an Bord zu gehen.«
Ella schüttelte den Kopf, musste dann aber kichern. »Peppa, hopp«, rief sie, und der Hund sprang mit einem Satz hinüber aufs Boot. Luke streckte Ella auffordernd die Hand entgegen. Sie schlug ein und machte einen großen Schritt über die Reling. »Übrigens ist Peppa ein Pudel.«
»Schaut mir nach einer wilden Promenadenmischung aus. Ich hab noch nie einen gefleckten Pudel gesehen. Ihr Hinterteil sieht ja aus wie mit Pfeffer bestreut.«
Was glaubte der wohl, worauf sich Peppas Name bezog? Peppa schien zu spüren, über wen die zwei da sprachen. Der Hundeschwanz drehte sich wie ein Propeller.
»Die werden Harlekins genannt«, erklärte Ella und verteidigte die Ehre ihres Lieblings. Sie fand Peppa mit dem schwarzen struppigen Köpfchen und dem sonst überwiegend weißen Fell sehr niedlich. Ein Streifen zog sich über die Hundestirn wie eine lange Locke, die Beine waren komplett hell.
»Kommst du eigentlich mit dem Hund klar?«, fragte Luke.
»Wie meinst du denn das?« Hielt er sie für unfähig?
»Du bist doch zur Kur hier. Viele Allergiekranke haben Probleme mit Tieren.«
Woher wusste er das schon wieder? »Peppa ist halt was Besonderes«, sagte sie schnippisch. Sie fing den wirbelnden Hund ein und knuddelte das Fellbündel. Obwohl der junge Pudel erst vier Wochen bei Ella lebte, wollte sie nicht auf ihn verzichten. »Pudel sind gut für Allergiker geeignet. Sie verlieren kaum Haare.« Das wusste sie seit Kurzem, weil ihr Vater darauf geachtet hatte. »Aber wenn du es genau wissen willst, ich hab gar keine Allergie.« Hunde waren gewiss nicht der Auslöser für ihr Asthma. Und das ging außerdem niemanden etwas an.
Ihre Miene musste Bände gesprochen haben.
»Na, dann fahren wir mal los«, meinte Luke. »Deine Tante wartet bestimmt schon.«
Er verzog sich in den halb offenen Führerstand und warf ihr eine Schwimmweste zu. »Hier. Anziehen bitte.«
»Muss das sein?«, fragte Ella.
»Ja, Befehl vom Käpt'n.« Luke hustete bedeutsam in die geschlossene Faust. »Wir haben nur einen Rettungsring. Pass also auf, dass deine Peppa nicht über Bord geht, und setz dich am besten auch hin. Das ist kein Kreuzfahrtschiff.« Er wies auf die schmale Holzbank neben sich, unter der das Gepäck verstaut war.
Ella schlüpfte in die Weste, nahm Platz und wickelte sich Peppas Leine ums Handgelenk.
Luke startete den Motor, doch das Boot bewegte sich nicht. Kein Wunder. Die Ginster hing immer noch an den Pollern.
Ehe Ella Einwände erheben konnte, ließ Luke sie allein mit dem verwaisten Ruder und machte die Leinen los.
Ella hielt den Atem an. Sie bereitete sich auf ein vorwärtsschießendes Boot vor, aber nichts passierte. Luke kehrte in aller Seelenruhe zurück. Erst als er den Gang eingelegt hatte, tuckerte die Ginster behäbig aus dem Hafenbecken. Dann wendete Luke das Boot und schaltete höher.
Hatte er sie mit Absicht erschreckt? Ella wollte sich nicht die Blöße geben und nachfragen, ob das der normale Weg war, ein Boot zu starten.
Nachdem sie den ersten Schrecken überwunden hatte, wartete gleich der nächste. Das Boot schwankte ganz anständig, und Ella hatte ausgerechnet die Tabletten gegen Reiseübelkeit vergessen. Wie würde das bloß auf dem offenen Meer werden? Bloß nicht seekrank werden, dachte Ella. Sie kraulte Peppa zur Ablenkung.
Die Maschine war so laut, dass man sich kaum unterhalten konnte, und damit fiel auch Telefonieren flach. Also richtete sie ihre Aufmerksamkeit auf die See. Spiegelte sich eigentlich der Himmel im Wasser, oder war es umgekehrt?
Sie ließen das Festland und Ellas altes Leben hinter sich zurück, und je weiter sie kamen, desto häufiger lugte die Sonne zwischen den Wolken hervor. Wo die Strahlen die See trafen, leuchtete sie flaschengrün auf. Bei dem Anblick vergaß Ella ihre laufende Nase.
Die Ginster passierte einen Krabbenkutter, der mit den seitlich angebrachten Netzen wie ein Falter aussah, der ins Meer gestürzt war und nun verzweifelt versuchte, wieder an Höhe zu gewinnen.
Irgendwann beugte Luke sich zu ihr hinüber. »Die halbe Strecke ist geschafft. Wenn wir uns ranhalten, kommen wir noch rechtzeitig zum Tee. Bist du eigentlich seekrank?«
Ella schüttelte verblüfft den Kopf. Ihr war kein bisschen übel, und dabei vertrug sie nicht einmal Autotouren und enge Serpentinenfahrten besonders gut. Sie war nach der langen Reise sogar hungrig - bis auf ein paar Sandwiches im Zug hatte sie seit dem Frühstück nichts gegessen.
»Mir geht's gut!«, meinte sie.
Luke brummte etwas Zustimmendes, aus dem Ella nur ein Wie und das Wort Irene heraushörte.
»Was?«, fragte sie und erhob sich halb, um ihn besser zu verstehen.
Luke sprach lauter. »Deine Mutter stammte von Burron. Du hast das Meer im Blut.«
Ella musste sich erst an den Akzent gewöhnen, der hier an der Küste gesprochen wurde. Aber das war eindeutig nicht das, was Luke zuvor gesagt hatte. Ihre Mutter hatte Margaret geheißen, und mit Künstlernamen »Tanya Simmons«. Wer war also diese Irene?
Soweit sie wusste, hieß aus ihrer Familie niemand so, aber die mütterliche Seite der Verwandtschaft hatte sie bisher nicht kennengelernt. Warum war ihre Mum eigentlich nie mit ihr zu einem Familienbesuch nach Burron gereist?

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